Generalisierte Angststörung: Sorgenkrankheit 

Historische Aspekte der generalisierten Angststörung

 
Sigmund Freud beschrieb im Rahmen der erstmaligen Definition der Angstneurose im Jahr 1895 zwei sehr unterschiedliche Angststörungen in Form einer einzigen Diagnose, wobei er die plötzlich und dramatisch auftretende Symptomatik der Panikattacken – vielleicht erleichtert durch seine eigenen Erfahrungen – sehr treffend charakterisierte, die Symptomatik der chronischen Angst dagegen relativ blass und vage mit den Begriffen „allgemeine Reizbarkeit“ und „ängstliche Erwartung“ umschrieb. Diese Art der Angst bezeichnete er als „frei flottierend“, weil sich die Erwartungsangst mit stets neuen ängstlichen Vorstellungsbildern verbinde.

Die psychoanalytisch orientierte Konzeption der Angstneurose wird in der neueren Diagnostik nicht nur durch eine theorienfreie Beschreibung ersetzt, sondern völlig neu als eigenständige Störung definiert.

Die generalisierte Angststörung wird durch das ICD-10 und das DSM-IV präziser definiert, als dies bei der recht vagen und umfassenden Charakterisierung der Angstneurose der Fall ist, sodass eine bessere empirische Überprüfbarkeit und eine größere klinische Nützlichkeit gegeben ist.

Historisch gesehen handelt es sich bei der generalisierten Angststörung um die Restkategorie der ehemaligen Diagnose der Angstneurose, die sich nach der Abtrennung der Panikstörung ergab. Ihr eigenständiger und eindeutiger Charakter war lange Zeit umstritten und gilt nunmehr als gesichert. 

Die generalisierte Angststörung wurde erstmals 1980 im amerikanischen psychiatrischen Diagnoseschema DSM-III als eigenständige Störung präsentiert, jedoch nur als eher diffuse Restkategorie nach Ausschluss anderer Störungen verstanden und erst im DSM-IV in Form einer Positivdiagnostik als Ausdruck ständiger unkontrollierbarer Sorgen angesehen. 

Sie ist im Vergleich zu anderen Angststörungen noch weniger untersucht und im klinischen Alltag viel zu selten diagnostiziert und behandelt. Sie findet auch in Forschung und Therapie erst in den letzten Jahren jene Beachtung, die sie aufgrund ihrer Lebenszeithäufigkeit von 5% und ihrer Ein-Jahres-Prävalenz von rund 3% in der Durchschnittsbevölkerung verdient. 

Im Gegensatz zu früher gibt es auch bereits verschiedene Erfolg versprechende Therapiekonzepte, die zur Überwindung des früheren therapeutischen Pessimismus beitragen. 

Im medizinischen Alltag besteht ein Hauptproblem bei der Erfassung dieser Störung in dem Umstand, dass die Betroffenen häufig den Arzt aufsuchen, ohne von ihren ständigen Sorgen und Befürchtungen zu berichten, an die sich im Laufe der Zeit bereits gewöhnt haben. Sie klagen überwiegend über Schlafstörungen, ständige Anspannung, Kopfschmerzen, Übelkeit, Reizbarkeit, Nervosität und Konzentrationsstörungen, weshalb auch von erfahrenen Ärzten häufig die Fehldiagnose einer Depression gestellt wird, wenngleich nach langer Dauer und unzureichender Behandlung der generalisierten Angststörung häufig auch eine Depression als Folgesymptomatik auftritt. 

Der klinische Eindruck einer Überlastung und Erschöpfung führt oft zur Verschreibung von Antidepressiva und zur Empfehlung von mehr Ruhe, Entspannung und Erholung, ohne dass die zentralen Ursachen der körperlichen Fehlsteuerung erkannt werden. Sie liegen in einer erhöhten Aktivität des zentralen Nervensystems durch anhaltende und unkontrollierbare Sorgen und nicht einfach in einer starken körperlichen Erschöpfung und Überaktivität des vegetativen (autonomen) Nervensystems. Die Betroffenen haben daher häufig einen jahrelangen Leidensweg hinter sich, bis ihre generalisierte Angststörung von Fachleuten als Ursache ihrer Beschwerden erkannt wird. 

Symptomatik der generalisierten Angststörung

 
Das ist das zentrale Merkmal der generalisierten Angststörung: ständige unkontrollierbare Sorgen und Befürchtungen, die psychisch krank machen und körperliche Symptome bewirken. Die Betroffenen sind grüblerisch, überbesorgt und pessimistisch bezüglich alltäglicher Ereignisse und geplagt von Erwartungsängsten („Die Welt und die Zukunft sind gefährlich“). Es besteht ein ständig erhöhtes Angstniveau, das meist keine Panikattacken, jedoch eine motorische Anspannung und vegetative Symptome bewirkt.

Als Kern einer empirisch-beschreibend definierten generalisierten Angststörung wird im amerikanischen Diagnoseschema DSM-IV die exzessive Angst und Sorge über mehrere Lebensumstände (im Sinne einer furchtsamen Erwartung) angesehen, die nicht unter Kontrolle gebracht werden kann, sodass mindestens drei von sechs empirisch am häufigsten gefundene körperliche Begleitsymptome (Ruhelosigkeit, leichte Ermüdbarkeit, Konzentrationsstörungen, Reizbarkeit, Muskelanspannung und Schlafstörungen) auftreten. Es dominieren zentralnervöse Symptome (Erregung und Anspannung). Die typischen vegetativen Angstsymptome (Herzklopfen, Atemnot Schwitzen, Übelkeit, Kloßgefühl) wurden – im Gegensatz zum ICD-10 – als unspezifisch ausgeschlossen.

Die übermäßigen und unkontrollierbaren Sorgen in mehreren Bereichen (Arbeit, Familie u.a.) sowie einige der charakteristischen Symptome müssen in den letzten sechs Monaten an der Mehrzahl der Tage aufgetreten sein, sodass eine deutliche Beeinträchtigung der beruflichen und sozialen Funktionsfähigkeit sowie der Lebensqualität gegeben ist.

Die ständigen Sorgen sind nach dem DSM-IV – im Gegensatz zum DSM-III-R – nicht unrealistische, sondern nur exzessiv-unkontrollierbar ausufernde Alltagssorgen.

Das frühere amerikanische Diagnoseschema DSM-IV nennt folgende Kriterien für eine generalisierte Angststörung:

A.    Übermäßige Angst und Sorge (furchtsame Erwartung) bezüglich mehrerer Ereignisse oder Tätigkeiten (wie etwa Arbeit oder Schulleistungen), die während mindestens 6 Monaten an der Mehrzahl der Tage auftraten.

B.    Die Person hat Schwierigkeiten, die Sorgen zu kontrollieren.

C.    Die Angst und Sorge sind mit mindestens drei der folgenden 6 Symptome verbunden (wobei zumindest einige der Symptome in den vergangenen 6 Monaten an der Mehrzahl der Tage vorlagen).
(1) Ruhelosigkeit oder ständiges „auf dem Sprung sein“,
(2) leichte Ermüdbarkeit,
(3) Konzentrationsschwierigkeiten oder Leere im Kopf,
(4) Reizbarkeit,
(5) Muskelspannung,
(6) Schlafstörungen (Ein- oder Durchschlafschwierigkeiten oder unruhiger, nicht erholsamer Schlaf).

D.    Die Angst und Sorgen sind nicht auf Merkmale einer Achse-I-Störung beschränkt, z.B. die Angst und Sorgen beziehen sich nicht darauf, eine Panikattacke zu haben (wie bei Panikstörung), sich in der Öffentlichkeit zu blamieren (wie bei Sozialer Phobie), verunreinigt zu werden (wie bei Zwangsstörung) … oder eine ernsthafte Krankheit zu haben (wie bei Hypochondrie).

E.    Die Angst, Sorge oder körperlichen Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

F.     Das Störungsbild geht nicht auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz (z.B. Droge, Medikament) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors … zurück…
Krankhafte Sorgen sind ständige Gedankenketten, die mögliche bedrohliche Situationen zum Inhalt haben. Sie gehen mit Angst einher und werden als unkontrollierbar erlebt.

Nach dem ICD-10 ist eine generalisierte Angststörung eine generalisierte und anhaltende Angst, die nicht auf bestimmte Situationen in der Umgebung beschränkt ist, sondern frei flottierend auftritt. Sie geht mit zahlreichen Befürchtungen, Sorgen und Vorahnungen in Bezug auf die eigene Person oder andere Menschen einher.

Die Betroffenen befürchten Krankheiten, Unfälle oder sonstige unangenehme Situationen im Alltagsleben. Früher wurde diese Störung, die in einem ängstlichen, zukunftsgerichteten Grübeln besteht, „Angstneurose“ genannt. Die ständigen Sorgen führen zu zahlreichen körperlichen Symptomen als Ausdruck der motorischen Anspannung und vegetativen Übererregbarkeit.

Die primären Symptome von Angst treten an den meisten Tagen auf, mindestens mehrere Wochen lang, meistens sogar mehrere Monate (mindestens 6 Monate nach den Forschungskriterien des ICD-10).

Die Störung findet sich häufiger bei Frauen, oft in Zusammenhang mit lang dauernden Belastungen durch äußere Umstände.

Der Verlauf ist schwankend, mit einer Tendenz zur Chronifizierung. Bei Kindern zeigt sich eine generalisierte Angststörung im häufigen Bedürfnis nach Beruhigung sowie in wiederholten körperlichen Beschwerden.

Nach den klinisch-diagnostischen Leitlinien des ICD-10 sind bei einer generalisierten Angststörung (F41.1) folgende Symptome typisch:
 
1.  Befürchtungen: 

  • Sorge über zukünftiges Unglück und entsprechende Vorahnungen: Angehörige könnten demnächst erkranken oder verunglücken, unbegründete Geldsorgen,   übertriebene Sorgen um die Leistungsfähigkeit in der Schule oder im Beruf,
  • Nervosität: ständige geistige Übererregbarkeit, erhöhte Aufmerksamkeit und Gereiztheit angesichts der unkontrollierbaren Befürchtungen, Schreckhaftigkeit,
  • Konzentrationsschwierigkeiten oder Vergesslichkeit.

 
2.  Motorische Spannung:

  • körperliche Unruhe,
  • Spannungskopfschmerz,
  • Zittern: sichtbarer Ausdruck der Muskelanspannung, unwillkürliches Zucken, „wackelig auf den Beinen“ sein,
  • Unfähigkeit, sich zu entspannen: ständige muskuläre Anspannung, verbunden mit rascher Ermüdbarkeit und Erschöpfung. 

 
3.  Vegetative Übererregbarkeit:

  • Schwindel oder Benommenheit,
  • Atemnot, Erstickungsgefühle oder Atembeschleunigung,
  • Herzrasen,
  • Schwitzen,
  • Hitzewallungen oder Frösteln,
  • feucht-kalte Hände,
  • Magen-Darm-Beschwerden: Übelkeit, Bauchschmerzen, Durchfall,
  • häufiges Wasserlassen (Harndrang),
  • Mundtrockenheit,
  • Schluckbeschwerden oder Gefühl, einen „Kloß im Hals“ zu haben,
  • Ein- oder Durchschlafstörungen.


Nach den Forschungskriterien des ICD-10 bestehen folgende Merkmale:

A.    Ein Zeitraum von mindestens sechs Monaten mit vorherrschender Anspannung, Besorgnis und Befürchtungen in Bezug auf alltägliche Ereignisse und Probleme.

B.    Mindestens vier Symptome der unten angegebenen Liste, davon eins von den Symptomen 1. bis 4. , müssen vorliegen:

Vegetative Symptome:
1.     Palpitationen, Herzklopfen oder erhöhte Herzfrequenz
2.     Schweißausbrüche
3.     fein- oder grobschlägiger Tremor
4.     Mundtrockenheit (nicht infolge Medikation oder Exsikkose).

Symptome, die Thorax und Abdomen betreffen:
5.     Atembeschwerden
6.     Beklemmungsgefühl
7.     Thoraxschmerzen und -missempfindungen
8.     Nausea oder abdominelle Missempfindungen (z.B. Kribbeln im Magen).

Psychische Symptome:
9.     Gefühl von Schwindel, Unsicherheit, Schwäche oder Benommenheit
10.   Gefühl, die Objekte sind unwirklich (Derealisation) oder man selbst ist weit entfernt oder „nicht wirklich hier“ (Depersonalisation)
11.   Angst vor Kontrollverlust, verrückt zu werden oder „auszuflippen“
12.   Angst zu sterben.

Allgemeine Symptome:
13.   Hitzewellen/-wallungen oder Kälteschauer
14.   Gefühllosigkeit oder Kribbelgefühle.

Symptome der Anspannung:
15.   Muskelverspannung, akute und chronische Schmerzen
16.   Ruhelosigkeit und Unfähigkeit zum Entspannen
17.   Gefühle von Aufgedrehtsein, Nervosität und psychischer Anspannung
18.   Kloßgefühl im Hals oder Schluckbeschwerden.
 
Andere unspezifische Symptome:
19.   übertriebene Reaktionen auf kleine Überraschungen oder Erschrecktwerden
20.   Konzentrationsschwierigkeiten, Leeregefühle im Kopf wegen Sorgen oder Angst
21.   anhaltende Reizbarkeit
22.   Einschlafstörung wegen Besorgnissen

C.    Die Störung erfüllt nicht die Kriterien für eine Panikstörung (F41.0), eine phobische Störung (F40), eine Zwangsstörung (F42) oder eine hypochondrische Störung (F45.2).

D.    Ausschlussvorbehalt: Die Störung ist nicht zurückzuführen auf eine organische Krankheit wie eine Hyperthyreose, eine organische psychische Störung (F0) oder auf eine durch psychotrope Substanzen bedingte Störung (F1), z.B. auf einen exzessiven Genuss von amphetaminähnlichen Substanzen oder auf einen Benzodiazepinentzug.

Die ICD-10-Forschungskriterien erweitern bei der generalisierten Angststörung die bekannte Liste der 14 möglichen Symptome einer Angststörung um weitere acht Symptome (vier Symptome der Anspannung und vier andere unspezifische Symptome), sodass sich insgesamt eine Liste von 22 möglichen Symptomen ergibt.

Nach dem ICD-10 sind die Sorgen und Befürchtungen – im Gegensatz zum DSM-IV – nicht unkontrollierbar und auch nicht übermäßig; laut ICD-10-Forschungskriterien müssen mindestens 4 von 22 möglichen Begleitsymptomen vorhanden sein.

Eine generalisierte Angststörung ist – wie nach DSM-III-R – ausgeschlossen, wenn gleichzeitig eine depressive Episode, eine Panikstörung, eine phobische Störung, eine Zwangsstörung oder eine hypochondrische Störung vorliegen. Als Restkategorie handelt es sich bei der generalisierten Angststörung im ICD-10 um keine eigenständige Angststörung, die DSM-IV-Kriterien betonen die Eigenständigkeit der Störung bei Komorbidität.

Das DSM-IV-Kriterium, dass die Sorgen „exzessiv“ (übermäßig) sein müssen, sollte zukünftig – wie im ICD-10 – gestrichen werden, da laut Studien auch anhaltende normale Sorgen im Laufe der Zeit zu erheblichen Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit führen. Im ICD sollte dagegen zukünftig das DSM-IV-Kriterium, dass die Sorgen unkontrollierbar sein müssen, aufgenommen werden.

Neuere Studien weisen darauf hin, dass die geforderte Dauer der generalisierten Angststörung von mindestens einem halben Jahr die Zahl der Betroffenen unterschätzt, da auch zahlreiche Personen mit geringerer Dauer der Störung unter erheblichen Funktionseinschränkungen und Einbußen der Lebensqualität leiden.     

Die 6 möglichen Symptome des DSM-IV erweisen sich laut Studien viel besser geeignet als die 22 möglichen Symptome der ICD-10-Forschungskriterien, eine generalisierte Angststörung zu diagnostizieren. Bei Berücksichtigung der vegetativen Symptome, wie dies im ICD-10 der Fall ist, gelingt nur schwer eine Abgrenzung gegenüber der Panikstörung.

Bei weniger restriktiven DSM-IV-Kriterien (Dauer der Störung nur mindestens einen Monat, Verzicht auf das Kriterium der Übermäßigkeit/Exzessivität der Ängste und nur mindestens zwei Symptome) würde die Häufigkeit der generalisierten Angststörung in der Bevölkerung (auf der Basis der amerikanischen NCS-R-Daten) um mehr als das Doppelte ansteigen. Die Daten bezüglich Komorbidität wären dagegen geringer.

Die Betroffenen begeben sich meist nicht wegen der Symptome der generalisierten Angststörung, an die sie sich oft schon gewöhnt haben, in ärztliche Behandlung, sondern wegen der Begleit- und Folgestörungen, z.B. depressive Episode, Muskelverspannung, anhaltende somatoforme Schmerzstörung oder Substanzmissbrauch, d.h. meistens erst im Falle einer Komorbidität.

Bei der Diagnostik der generalisierten Angststörung in der klinischen Praxis tritt nicht selten eine Komplikation dadurch auf, dass die Betroffenen oft beklagen, die Kontrolle über ihre ständigen Ängste zu verlieren („Meine Gedanken laufen dahin, ich bekomme sie nicht mehr unter Kontrolle“), verrückt zu werden („Bald schnappe ich über“) oder nicht mehr gesund zu werden („Mir kann kein Arzt mehr helfen“), ohne dass gleichzeitig eine Panikstörung, eine Depression oder eine Schizophrenie gegeben ist. Dennoch wird vom konsultierten Arzt nicht selten die Verdachtsdiagnose „schwere Depression“ oder gar „beginnende Schizophrenie“ gestellt – oder die Betroffenen werden als hypochondrisch bzw. hysterisch abqualifiziert.

Unnötig häufig werden schwere Psychopharmaka verordnet, vor allem auch Neuroleptika, obwohl keine Anzeichen für eine beginnende Schizophrenie gegeben sind. Da die Betroffenen oft sehr empfindlich sind gegenüber Psychopharmaka, treten durch die verabreichten Neuroleptika und Antidepressiva (anfangs nicht selten in zu hoher Dosis) zusätzliche Symptome auf, die von Menschen mit einer generalisierten Angststörung als weiterer Beweis ihrer Unheilbarkeit gewertet werden.

Wegen der eskalierenden Symptomatik erfolgt dann öfter eine (bei richtiger Diagnose und Behandlung meistens nicht erforderliche) Einweisung in die Psychiatrie, was die Betroffenen in ihren Ängsten massiv verstärken kann, vor allem auch durch die dort gemachten Erfahrungen.

Menschen mit generalisierter Angststörung unterschieden sich von gesunden Personen nicht bezüglich der Inhalte, über die sie sich sorgen, wohl aber hinsichtlich der Zeit, die sie mit Sorgen zubringen. Während sich laut Studien Patienten mit einer generalisierten Angststörung 60% des Tages (mehr als 6 Stunden) sorgen, trifft dies bei gesunden Kontrollgruppen nur in 18% der Fälle zu.

Lediglich um den täglichen Kleinkram sorgen sich Angstpatienten viel mehr als andere Menschen. Die Betroffenen wissen, dass sich andere nicht um solche Kleinigkeiten sorgen. Sie sorgen sich auch mehr als andere um mögliche zukünftige Ereignisse, ohne Lösungsstrategien zu entwickeln. Sie leben ständig „in der Zukunft“ („Was wäre, wenn“) und zu wenig im Hier und Jetzt.

Die anhaltenden Sorgen kreisen gewöhnlich um folgende Inhalte: Krankheit, Verletzungen, Familienangelegenheiten, Beruf, Finanzen, Kleinigkeiten des Alltagslebens, Umwelt u.a. Der alltägliche Kleinkram wie zusätzliche Haushaltstätigkeiten (Waschen oder Wohnungsreinigung), geringfügige Reparaturen und Renovierungen, verschiedene Termine, finanzielle Ausgaben in überschaubarem Ausmaß, normale Veränderungen wie geplanter Umzug, gewünschter Berufswechsel des Gatten oder notwendiger Schulwechsel des Kindes bringen die betroffene Person völlig durcheinander und machen sie ständig nervös und angespannt.

Alles wird gleich zur größten Katastrophe – und dennoch kann, obwohl die eine Sache noch gar nicht überstanden ist, bald wieder etwas völlig anderes im Zentrum der ängstlichen Besorgtheit stehen: Es bilden sich Sorgen-Ketten. Das Springen von einem Thema zum anderen wirkt kurzfristig spannungsvermindernd, weil das Verweilen bei einem Inhalt die Angst zur Panik steigern könnte.

Die Ängste werden oft nicht durch bestimmte äußere Reize oder Situationen ausgelöst, weshalb das äußere Vermeidungsverhalten keine so große Rolle spielt wie bei Phobien, auch nicht durch bestimmte Körperwahrnehmungen wie bei Panikattacken. Äußere Reize können jedoch die innere Bereitschaft zu Sorgen aktivieren.

Latent vorhandene Ängste vor Erkrankungen in der Familie können durch Informationen über momentan gehäuft auftretende Fälle einer bestimmten Krankheit sofort manifest werden. Auf Dauer empfinden die Betroffenen ihr ständiges Sorgen als sehr belastend, können es aber dennoch nicht kontrollieren, verglichen mit nichtängstlichen Personen, die sich (allerdings weniger lange) über dieselben Angelegenheiten sorgen können.

Das innere Vermeidungsverhalten der Betroffenen (nicht an die Sorgen denken und sich ständig ablenken mithilfe bestimmter Strategien) verhindert eine zielführende Auseinandersetzung mit den ständigen Befürchtungen und verstärkt letztlich die Sorgen, d.h. der kurzfristige Beruhigungseffekt wirkt sich langfristig fatal aus. Manche Patienten sind subjektiv überzeugt, dass das ständige Sorgen sinnvoll ist, um auf mögliche negative Ereignisse besser vorbereitet zu sein. Ein Beispiel veranschaulicht die Störung:

Frau Huber, 37 Jahre alt, verheiratet mit einem Außendienstmitarbeiter, Mutter von zwei Vorschulkindern und seit einem Jahr halbtags berufstätig, macht sich ständig wechselnde Sorgen: ob sie Haushalt, Kinderbetreuung und Beruf auf Dauer ohne Überforderung bewältigen könne; ob dem Gatten bei seinen täglichen, beruflich veranlassten Reisen nicht doch einmal etwas passieren könnte oder ihm seine ungesunde und unregelmäßige Ernährung nicht einmal schaden könnte; ob die Kinder während ihrer Arbeitszeit von ihrer Mutter wirklich ausreichend betreut werden; ob sie nicht im Falle einer Grippe der Kinder durch einen nötigen Pflegeurlaub von der Kündigung bedroht sein könnte; ob sie bei ihren Schlafstörungen nicht einmal aus Konzentrationsmangel einen gröberen Fehler in der Arbeit machen könnte; ob sie nicht wegen des starken Verkehrs öfter verspätet in die Arbeit kommen könnte und dann mit Kritik vonseiten ihres Chefs rechnen müsste; ob tatsächlich genug Geld vorhanden ist, um nach den Vorstellungen des Gatten einen Hausbau zu wagen; ob sie sich daneben wirklich auch noch ein Auto für die Fahrt zur Arbeit, eine bessere Waschmaschine und einen neuen Ofen leisten könne; ob ihr geliebter herzkranker Vater nicht bald sterben könnte, weil er zuletzt öfter im Krankenhaus war.

Die Betroffenen erreichen trotz chronischer Anspannung („auf dem Sprung sein“) meist nicht eine körperliche Aktivierung im Ausmaß einer Panikattacke – und wenn dies doch einmal der Fall ist, weil eine ganz bestimmte Sorge in lebendig-plastischen Bildern in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit tritt, besteht in der klinischen Praxis häufig die Gefahr, angesichts der dramatischen Schilderung einer Panikattacke die bereits jahrelang vorhandene generalisierte Angststörung zu übersehen oder deren dauerhaft vorhandene körperliche Symptomatik als Ausdruck einer Depression fehlzudiagnostizieren.
     
Die Sorgen als Gedankenketten bezüglich möglicher bedrohlicher Situationen und die daraus resultierenden Körpersymptome schaukeln sich gewöhnlich erst dann zu einer Panikattacke auf, wenn die kognitive Vermeidung nicht mehr gelingt, insbesondere wenn eine sehr bildhafte Vergegenwärtigung der vermeintlichen Gefahr diese als schon fast eingetreten erscheinen lässt. Die bildhafte Vergegenwärtigung eines gefürchteten Ereignisses wirkt derart lähmend, dass zielführendes Denken und konstruktives Handeln nicht möglich sind. Panik, berichtet als „Panikattacke“, ist die Folge.

Im Gegensatz zu den Sorgen von Depressiven, die meist mit Ereignissen in der Vergangenheit zu tun haben, sind die Sorgen von Patienten mit generalisierten Ängsten auf die Zukunft gerichtet. Das Ergebnis ist jedoch in beiden Fällen dasselbe: Es kommt zu keinem beruhigenden Abschluss des Denkprozesses. Depressive können Verlusterlebnisse oder Schuldgefühle bezüglich vermeintlicher Fehler nicht überwinden, Angstpatienten finden kein Vertrauen zu sich und zur Zukunft. Sie zeigen eine Intoleranz gegenüber Unsicherheit und Unkontrollierbarkeit und suchen absolute Sicherheit.

Die sinnhafte Funktion von Sorgen (Unsicherheit zu reduzieren und sich auf ein mögliches negatives Ereignis vorzubereiten), ist bei Menschen mit generalisierten Ängsten verloren gegangen. Unabhängig davon, wie berechtigt die Befürchtungen tatsächlich sind, kommt es zu keinem zielführenden Abschluss der Überlegungen nach dem Motto: „Wenn X eintritt, werde ich Y tun“, sodass von einem ständigen Grübeln ohne mentale Vorentscheidungen gesprochen werden kann. Dies vermittelt und verstärkt das Gefühl von Hilflosigkeit und Kontrollverlust über die Lebenssituation.     

Trotz des Sorgens von über sechs Stunden pro Tag müssen – ähnlich wie bei Zwangspatienten – Angehörige und Bekannte beruhigend wirken. Die Betroffenen müssen sich zu ihrer Beruhigung ständig bei anderen Menschen rückversichern, dass nichts passieren wird. Eine derart ängstliche Frau wird so von ihrem Gatten abhängig wie ein kleines Kind.

Man kann das ständige Sich-Sorgen als „Problemlöseprozess ohne Problemlösung“ verstehen. Die Betroffenen spielen gedanklich alle möglichen Katastrophen (Worst-Case-Szenarien) durch, ohne jemals zu Lösungen zu gelangen, wie diese Katastrophen vermieden werden könnten (z.B. „Wenn mein Mann nicht zum vereinbarten Zeitpunkt zu Hause ist, ist ihm bestimmt etwas zugestoßen“). Die Besorgnis erregenden Überlegungen beziehen sich stets auf negative Aspekte, mögliches Versagen oder Unglück und führen nicht zu hilfreichen und damit beruhigend wirkenden Lösungsstrategien. 

Das Grübeln stellt nicht nur ein Problem dar, sondern auch einen Lösungsversuch. Sich zu sorgen, scheint noch größeres Leid verhindern zu können („Ich muss mich ständig sorgen, sonst passiert noch etwas Schlimmes“). Wenn sich vorübergehend Erleichterung einstellt, weil man sich lange genug mit einer Befürchtung beschäftigt hat und nun gleichsam vor einer realen Gefahr bewahrt bleibt, wird das Grübeln letztlich verstärkt. 

Unkontrollierbare Befürchtungen führen zu einem ausgeprägten Vermeidungsverhalten, das die Lebensqualität erheblich beeinträchtigt, z.B. erfolgt aus Angst vor Risiken ein Verzicht auf Kinder, sportliche Aktivitäten, weite Reisen, Kreditaufnahme für einen Hausbau, leitende berufliche Position mit Verantwortungsübernahme u.a. 


Epidemiologie, Verlauf und Folgen der generalisierten Angststörung

 
Zusammenfassend gesehen leiden nach verschiedenen Studien rund 5% der Bevölkerung im Laufe des Lebens und rund 3% aktuell unter einer generalisierten Angststörung. Die Häufigkeit der Störung ist im Steigen begriffen. Jüngere Menschen sind mehr davon betroffen als ältere, Frauen doppelt so oft als Männer. 

Die Häufigkeitsdaten zur generalisierten Angststörung müssen auf dem Hintergrund der jeweiligen Diagnosekriterien gesehen werden [62]. Diese haben sich in den USA vom DSM-III über das DSM-III-R bis zum DSM-IV erheblich geändert und unterscheiden sich auch vom ICD-10 sehr wesentlich. Zwischen den DSM-IV- und den ICD-10-Kriterien besteht laut Studien nur eine Übereinstimmung um 50%. Nach den ICD-10-Kriterien wird eine höhere Häufigkeitsrate erhoben als nach den DSM-IV-Kriterien.

In den USA wurde im Rahmen einer nationalen Studie (NCS-Studie) in den 1990er-Jahren mithilfe der DSM-III-R-Kriterien die generalisierte Angststörung lebenszeitbezogen bei 5,1%, innerhalb des letzten Jahres bei 3,1% und innerhalb des letzten Monats bei 1,6% der Bevölkerung gefunden (nach ICD-10-Kriterien lebenszeitbezogen bei 8,9%). Die Störung zeigte sich lebenszeitbezogen bei 6,6% der Frauen und 3,6% der Männer, innerhalb des letzten Jahres bei 4,3% der Frauen und 2,0% der Männer, innerhalb des letzten Monats bei 2,1% der Frauen und 1,0% der Männer. Es bestand eine Lebenszeit-Komorbidität von 90,5%, d.h. die Betroffenen wiesen zumeist auch noch mindestens eine andere psychische Störung auf. Aktuell (auf die letzten 30 Tage bezogen) zeigte sich bei beachtlichen 66,3% eine weitere psychische Störung, während nur ein Drittel eine reine generalisierte Angststörung aufwies. Von den Betroffenen fühlten sich 49% im Leben deutlich beeinträchtigt, suchten 66% irgendeine Form von Hilfestellung und nahmen 44% Medikamente. 

Nach der neueren nationalen Erhebung in den USA (NCS-R-Studie) in den Jahren 2001-2003 mithilfe der DSM-IV-Kriterien ergab sich eine Häufigkeit der generalisierten Angststörung lebenszeitbezogen von 5,7% (Frauen: 7,1%, Männer; 4,2%) und innerhalb der letzten 12 Monate von 3,1%. Bei weniger strengen Kriterien (Dauer nur mindestens vier Wochen, Verzicht auf das Kriterium der Exzessivität der Sorgen) bestand eine Lebenszeithäufigkeit von 12,8% und eine 12-Monate-Häufigkeit von 6,2%. Unter Berücksichtigung eines dritten Kriteriums (nur zwei statt mindestens drei Symptome) ergab sich nur mehr ein minimaler Häufigkeitsanstieg (lebenszeitbezogen 13,7% und 12-Monate-Häufigkeit 6,6%). 

Menschen mit unkontrollierbaren Sorgen von weniger als 6 Monaten unterscheiden sich hinsichtlich zahlreicher Parameter kaum von Personen mit mindestens 6 Monate anhaltenden unkontrollierbaren Befürchtungen, d.h. auf der Grundlage der gegenwärtigen Diagnosekriterien wird nicht nur die Häufigkeit der generalisierten Angststörung unterschätzt, sondern auch das Beeinträchtigungsausmaß einer relativ großen subklinischen Bevölkerungsgruppe. 

Eine Lockerung der DSM-IV-Diagnose-Kriterien ist angezeigt. Das diffuse, schwer objektivierbare Kriterium der „übermäßigen“ Besorgtheit, das ursprünglich die Pathologisierung normaler Alltagssorgen in Reaktion auf stressreiche Lebensereignisse verhindern sollte, könnte zumindest entschärft werden durch Bezeichnungen wie „intensive“ oder „häufige“ Sorgen. 

Eine nationale Befragung in den Niederlanden fand bei 2,3% im Laufe des Lebens und bei 1,2% im Laufe der letzten 12 Monate eine generalisierte Angststörung. Eine nationale Befragung in Australien erhob nach DSM-IV-Kriterien eine Ein-Jahres-Prävalenz von 3,6%. 
Es gibt auch verschiedene Studien zur Häufigkeit von Patienten mit einer generalisierten Angststörung in den Allgemeinarztpraxen. Nach einer WHO-Studie ist die generalisierte Angststörung die häufigste Angststörung in Allgemeinarztpraxen von 15 Ländern (6-Monate-Prävalenz 7,9% nach dem ICD-10, 5,3% nach dem strengeren DSM-IV). Die wenigsten Betroffenen nennen „Angstprobleme“ als Konsultationsgrund. 

Unter Leitung des Experten Wittchen wurde die weltweit größte Studie zu generalisierten Angststörungen und Depressionen in den Ordinationen von 558 deutschen Allgemeinärzten bei über 20000 Patienten erstellt (GAD-P-Studie: Generalisierte Angst und Depression in der Primärärztlichen Versorgung). Alle Patienten, die am Stichtag den Hausarzt aufsuchten, wurden mittels eines standardisierten Fragebogens zu ihren aktuellen psychischen Beschwerden befragt. Unabhängig davon charakterisierten die Hausärzte nach der Konsultation das Störungsbild, den Schweregrad, den Behandlungsbedarf sowie den psychischen und physischen Gesundheitszustand des Patienten. 

27% der Hauarztpatienten, d.h. mehr als ein Viertel der Patienten, litten in den vergangenen vier Wochen unter Angstbeschwerden, ängstlicher Anspannung und Besorgnis. Jeder fünfte dieser Patienten wies eine seit mehr als sechs Monaten andauernde generalisierte Angststörung auf. Die generalisierte Angststörung mit einer Stichtagsprävalenz von 5,6% gehört damit zu den häufigsten psychischen Erkrankungen in der Allgemeinarztpraxis. Die generalisierte Angststörung wurde jedoch bei zwei Drittel der Patienten von den Ärzten nicht erkannt. Noch weniger Patienten werden adäquat behandelt, was für die Betroffenen und das Gesundheitssystem schwerwiegende Folgen hat.

Nur ein Drittel der Patienten mit einer generalisierten Angststörung werden von Hausarzt richtig diagnostiziert. Andererseits waren nur 16% der hausärztlich gestellten Diagnosen einer generalisierten Angststörung richtig. Bei einem Drittel der Patienten mit einer generalisierten Angststörung äußerte der Hausarzt nicht einmal einen Verdacht auf irgendeine psychische Störung. Fast jeder zweite Betroffene wurde nicht richtig behandelt, zumeist weil die Störung nicht erkannt wurde. Weniger als 20% der Betroffenen erhalten eine spezifische medikamentöse Therapie. 

Von den 40% psychotherapeutisch behandelten Patienten erhält nur ein Bruchteil davon eine effektive kognitive Verhaltenstherapie. Mit zunehmender Erkrankungsdauer kommt es zu immer häufigeren deprimierenden erfolglosen Bewältigungsversuchen und untauglichen und chronifizierenden Behandlungsversuchen der Ärzte, sodass im Laufe der Zeit häufig auch noch eine Depression im Sinne einer Komorbidität auftritt. 

Die generalisierte Angststörung, an der über 2,5 Millionen der deutschen Bevölkerung leiden, verursacht die höchsten arbeitsbezogenen Einschränkungen (angstbedingte Fehlzeiten und Minderleistung). 

Nach einer großen Studie in Allgemeinarztpraxen in Skandinavien (Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden) im Jahr 2001 leiden 6,0% der Frauen und 4,8% der Männer unter einer generalisierten Angststörung. Es ergab sich damit ein ähnlicher Befund wie in Deutschland, in den skandinavischen Ländern zeigte sich jedoch eine fast doppelt so hohe Komorbidität von generalisierter Angststörung und depressiver Störung als in deutschen Allgemeinarztpraxen. Nur ein Drittel bis zur Hälfte der Betroffenen wurde von den Hausärzten richtig diagnostiziert. 

Laut Studien weisen 90% der Patienten mit generalisierten Ängsten in Behandlungseinrichtungen mindestens eine weitere Störung auf, oft auch mehr als zwei, am häufigsten eine Dysthymie bzw. depressive Störung, aber auch andere Angststörungen (vor allem soziale Phobie, spezifische Phobie oder Panikstörung). 

Gehäuft findet man (meist vermeidende oder dependente) Persönlichkeitsstörungen. Bei Bevölkerungsstudien in den USA und Australien ergaben sich ähnliche Komorbiditäten um 90%. 

Eine generalisierte Angststörung beginnt meist in jüngerem Alter als eine Panikstörung, und zwar zwischen 11. Lebensjahr und frühen 20er-Jahren (bei zwei Drittel). Ein zweiter (geringerer) Altersgipfel liegt zwischen dem 30. und dem 35. Lebensjahr [64]. Die Werte bleiben stabil hoch mindestens bis zum 55. Lebensjahr. Unter älteren Personen (vor allem Frauen) ist die generalisierte Angststörung die häufigste Angststörung. 

Die Störung beginnt im Gegensatz zur Panikstörung meist langsam, ohne ein auslösendes, einschneidendes Ereignis. Ihre Entwicklung wird begünstigt durch bestimmte lebensgeschichtliche Ereignisse und Erfahrungen (frühe Trennung von den Eltern, unsichere Eltern-Kind-Bindung, negative Erlebnisse in der Schulzeit, alkoholkranker Vater, bedrohliche Ereignisse wie Arbeitslosigkeit oder finanzielle Probleme, allgemein erhöhtes Stressniveau, körperliche und sexuelle Gewalt sowie andere Traumatisierungen). 

Den Betroffenen ist lange Zeit nicht bewusst, dass ihre ständigen Sorgen und Befürchtungen eine Krankheit darstellen. 

Viele Patienten kennen sich von klein auf als Person, die ständig besorgt ist über alle möglichen Dinge des Lebens. Sie gehen daher anfangs häufig nicht in psychotherapeutische Behandlung, sondern suchen wegen der zunehmenden körperlichen Begleitsymptomatik (Schlafstörung, chronische Verspannung, Nervosität, Magen-Darm-Probleme, Kopfschmerzen u.a.) den Hausarzt auf. 

Neuere Studien belegen enge Zusammenhänge zwischen generalisierter Angststörung und psychosomatischen Beschwerden, insbesondere Schmerzstörungen und Magen-Darm-Beschwerden. Ein gutes Drittel der Patienten leidet unter einem Reizdarmsyndrom. 

Die generalisierte Angststörung kann einerseits über den Weg der chronischen Muskelverspannung zu einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung führen, andererseits können chronische Schmerzen eine generalisierte Angststörung begünstigen. 

Sobald körperliche Beschwerden hartnäckig andauern, nehmen die Betroffenen vermehrt medizinische Dienste in Anspruch zur diagnostischen Abklärung und primär organmedizinisch ausgerichteten Behandlung ihrer Beschwerden. 

Die Störung verläuft ohne adäquate Behandlung oft chronisch, mit einer geringen Spontanheilungsrate. Schwankungen der Befindlichkeit sind allerdings typisch. Bei rund der Hälfte der Betroffenen gibt es durchaus symptomfreie Intervalle. 

Positiv-lebensverändernde Ereignisse (z.B. Heirat) können den Verlauf einer generalisierten Angststörung oft nicht beeinflussen. 

Mit der Fortdauer der Störung nehmen Anzahl und Ausprägungsgrad der Symptome zu. In Belastungssituationen tritt häufig eine Verschlechterung auf. 

Wenn die Störung länger als ein Jahr andauert, lassen sich oft auch andere Störungen feststellen, insbesondere soziale Phobie, Dysthymie (lang andauernde, leichte depressive Verstimmung), Medikamentenmissbrauch und Persönlichkeitsstörungen, vor allem eine ängstlich-vermeidende oder zwanghafte Persönlichkeitsstörung. 

Aufgrund des großen subjektiven Leidensdrucks und der möglichen Folgen ist die generalisierte Angststörung als sehr beeinträchtigende Störung anzusehen. Die soziale Beeinträchtigung ist oft größer als bei Patienten mit einer chronisch somatischen Erkrankung. 

Die Betroffenen werden wegen der zahlreichen anhaltenden körperlichen Symptome meist nur medikamentös behandelt, vor allem mit Medikamenten für Schlafstörungen und Nervosität. Die Grundkrankheit wird oft übersehen. Rund ein Drittel der Personen mit einer generalisierten Angststörung war laut eigenen Angaben bereits lange vor Beginn der Störung nervös und ängstlich. 

In Hausarzt-Praxen stellen generalisierte Ängste die häufigste Angststörung dar, obwohl die Betroffenen meist nicht deswegen zum Arzt gehen. Dies zeigt die Notwendigkeit der Früherkennung, um großes individuelles Leid und hohe volkswirtschaftliche Kosten wegen der Begleit- und Folgekrankheiten rechtzeitig verhindern zu können. 


Differenzialdiagnose

 
Die Ängste bei einer generalisierten Angststörung weisen vielfältigste Inhalte auf und sind nicht auf bestimmte Themen begrenzt, wie dies bei anderen Angststörungen der Fall ist: Angst vor einer Panikattacke (Panikstörung), Angst vor fehlender Fluchtmöglichkeit (Agoraphobie), Angst vor Kritik (Sozialphobie), Angst vor Verunreinigung (Zwangsstörung), Angst vor dem Wiedererleben bestimmter traumatisierender Erfahrungen (posttraumatische Belastungsstörung), Angst vor einer ernsthaften Erkrankung (Hypochondrie), Angst vor vielfältigen Körpersymptomen (Somatisierungsstörung).

Im Vergleich zu Panikpatienten, die plötzlich auftretende Symptome (Herzrasen, Atemnot) als lebensgefährliche Bedrohung erleben, dominieren bei Menschen mit generalisierter Angststörung andere, jedoch länger anhaltende körperliche Beschwerden (Übelkeit, Durchfall, Kopfschmerzen, Anspannung, Schlafstörungen) sowie Befürchtungen bezüglich anderer möglicher Bedrohungssituationen (Sorgen um die Zukunft und die mögliche Gefährdung Angehöriger, Verlustängste, interpersonelle Probleme).

Im Vergleich zu Sozialphobikern, die sich vor sozialen Leistungssituationen fürchten, sind die Ängste unabhängig von sozialen Situationen. Gegenüber spezifischen Phobien imponiert das stärkere „Was wäre, wenn…?“, ohne Vermeidung externer Reize.

Im Vergleich zu Depressiven klagen die Betroffenen weniger über Interessenverlust, Niedergeschlagenheit oder psychomotorische Verlangsamung und grübeln auch weniger über Selbstmord oder Schuldthematiken; die Sorgen sind nicht einseitig auf die Vergangenheit und das eigene Versagen gerichtet, sondern ängstlich-zukunftorientiert nach dem Motto „Was wäre, wenn“.

Bei Menschen mit einer Depression drehen sich die Sorgen und Grübeleien typischerweise um Ereignisse aus der Vergangenheit, die mit Fehlschlägen, vermeintlichen Schuldgefühlen oder Verlusterlebnissen zu tun haben.

Menschen mit einer generalisierten Angststörung sorgen sich zwar ständig über alles Mögliche in der Zukunft, hoffen aber doch, dass das Bevorstehende gut ausgeht. Depressive Patienten sind dagegen überzeugt, dass es angesichts betrüblicher Ereignisse in der Vergangenheit und Gegenwart keine positive Zukunft mehr geben kann. Der ängstliche Mensch will eine Katastrophe um jeden Preis vermeiden, für den depressiven Menschen ist dagegen die Katastrophe bereits eingetreten.

Im Vergleich zu Menschen mit einer Hypochondrie sorgen sich Menschen mit einer generalisierten Angststörung über eine Fülle möglicher Gefahren neben dem Risiko einer körperlichen Erkrankung der eigenen Person oder eines Familienmitglieds.

Gegenüber Menschen mit einer Zwangsstörung lässt sich das ständige Sorgen von Personen mit einer generalisierten Angststörung klar abgrenzen. Die Sorgen sind realistischer, ich-näher und weniger aufdringlich als das Grübeln. Es bestehen keine Sorgen um Verunreinigung und Ansteckung. Es fehlen auch die zwangstypischen Rituale.

Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung wird keine generalisierte Angststörung diagnostiziert, wenn die Ängste nur im Verlauf derselben auftreten. 

Ein vorübergehendes Auftreten anderer Symptome während jeweils weniger Tage, vor allem eine Depression, schließt nach dem ICD-10 eine generalisierte Angststörung als Hauptdiagnose nicht aus, die Betroffenen dürfen jedoch nicht die vollständigen Kriterien für eine depressive Episode (F32), eine phobische Störung (F40), eine Panikstörung (F41.0) oder eine Zwangsstörung (F42) erfüllen. Wenn dies der Fall ist, kann jedoch nach dem DSM-IV eine Doppeldiagnose im Sinne einer Komorbidität gestellt werden. 
Die Diagnose einer generalisierten Angststörung setzt den Ausschluss einer körperlichen Erkrankung (z.B. der Schilddrüse) und einer Substanzeinwirkung voraus.