Krankhafte Angst 

Angst als biologisch sinnvolle Reaktion   

So paradox es für Angstkranke auch klingen mag: Angst ist zunächst einmal ein ganz normales menschliches Gefühl, genauso wie Freude, Liebe, Ärger, Wut oder Traurigkeit. 

Angst ist sogar ein äußerst sinnvolles Warnsignal und schaltet sich immer dann ein, wenn Ereignisse und Situationen als bedrohlich, ungewiss oder unkontrollierbar eingeschätzt werden.  

Angst bewirkt eine Alarmreaktion des Körpers und bereitet ihn auf Kampf oder Flucht vor – ohne langes Nachdenken: das Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt, die Atmung wird beschleunigt und die Muskeln werden angespannt, um der Gefahr möglichst schnell zu entkommen. Angst ist Überlebensschutz – und das seit Jahrmillionen. 


Angst ist eine Grundbefindlichkeit des menschlichen Seins. Wir können immer nur mehr oder weniger angstfrei sein, eine völlige Angstfreiheit ist ein unrealistisches und geradezu lebensgefährliches Ziel. 


Das Wort „Angst“ geht zurück auf das lateinische Wort angustiae bzw. das urindogermanische Wort anghos. Beide Worte bedeuten dasselbe: Enge, Beklemmung. Schon unsere Vorfahren verstanden somit Angst als eine körperliche Reaktion, die die Kehle zuschnürt, das Herz bedrängt und die Brust so einschnürt, dass die Luft wegbleibt. Und das ist bis heute so geblieben – Angst, ein „Urinstinkt“. 

 

Angst – ein Spiegel der Zeit 

Angstreaktionen sind nicht nur biologisch geprägt, sondern auch kulturell und sozial bestimmt. Frauen dürfen mehr Angst haben, Männer sollen dagegen möglichst keine Angst zeigen und neigen daher verstärkt zum Verdrängen.

Unter den diagnostizierten Angstkranken befinden sich – je nach Angststörung – zwei bis drei Mal mehr Frauen als Männer, was aber nur beweist, dass Frauen häufiger eine Behandlung aufsuchen.

Angst ist nicht weiblich, Männer gehen nur anders damit um – neigen eben zum Tabuisieren – und bekommen dafür häufiger Alkoholprobleme und schwerere psychosomatische Störungen als Frauen.

Das Ausmaß von Ängsten ist auch von sozioökonomischen Gegebenheiten abhängig. Eine repräsentative Untersuchung nach der deutschen Wiedervereinigung hat gezeigt, dass krankhafte Ängste im Osten (16,3 Prozent) doppelt so häufig vorkommen als im Westen (7 Prozent), was nur durch die Umbruchsituation zu erklären ist. 

Aus der Forschung ist bekannt, dass die Unkontrollierbarkeit und Unvorhersagbarkeit von Lebenssituationen eine der wichtigsten Ursachen für Angstreaktionen darstellt. 

Zahlreiche Ängste hängen mit gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen und Gegebenheiten zusammen. 

Die Angst um den Arbeitsplatz, vor allem in krisengeschüttelten Branchen und bei bestimmten Arbeitnehmern (bei weiblichen, älteren, kranken und behinderten Personen) resultiert aus Veränderungen, die durch die Schlagworte Globalisierung, Rationalisierung, Umstrukturierung, Auslagerung in Billiglohnländer, steigender Kostendruck u.a. charakterisiert sind. 

Weniger Arbeitnehmer müssen immer mehr Arbeit bei stagnierenden Löhnen verrichten, sodass der Arbeitsdruck steigt und Panikattacken und Versagensängste zunehmen. 

Die Symptome der Angst können je nach zeitgeschichtlichem Hintergrund wechseln. Bei Frauen manifestierten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts Angstsymptome oft in Ohnmachtsanfällen, bei Männern im ersten Weltkrieg nicht selten in Form von unkontrollierbarem Zittern. 

Angst kann sich auch sehr dramatisch in Form der sogenannten „Angsthysterie“ äußern, verbunden mit Schreien, Weinen, Hyperventilation oder als stummer Leidenszustand in Form verschiedener psychovegetativer und psychosomatischer Störungen. 

In verschiedenen Kulturen führt Angst zu unterschiedlichen körperlichen Symptomen. Angst zeigt sich dabei z. B. als befürchteter Verlust der Manneskraft oder als befürchteter vorübergehender Verlust der Seele bei übermäßigem Stress.  

Es ist interessant und beinahe paradox, dass wir uns vor den realen Gefahren unserer technisch-industriellen Gesellschaft, wie etwa dem elektrischen Strom, bestimmten Chemikalien, Verkehrsmitteln oder Nuklearwaffen, oft weniger fürchten als vor Objekten und Situationen, die für unsere Vorfahren lebensgefährlich waren (z.B. Schlangen oder Dunkelheit). Dies zeigt, wie formbar unsere Reaktionen auf potentielle Angstreize sind, wenn wir nicht durch evolutionär bedingte und vererbte Ängste gesteuert werden. 

Oder haben Sie etwa Angst vor dem Autofahren? Wohl kaum, obwohl es erwiesenermaßen als äußerst unsicheres Verkehrsmittel gilt. Und warum nicht? Weil wir uns schlicht und einfach daran gewöhnt haben. 

Dagegen äußert sich die evolutionär geprägte Höhenangst allzu oft in Panik vor dem Fliegen, einer der sichersten Fortbewegungsarten unserer Zeit. 

 

Angst ist gelernt und kann wieder verlernt werden 


Viele Ängste werden erlernt oder anerzogen – in der Familie, in der Schule, im Beruf, in der übrigen sozialen Umwelt und durch unterschiedlichste Lebenserfahrungen. Studien bestätigen, dass ängstliche Eltern oft auch ängstliche Kinder haben. 

Kein Wunder: Übertriebene Fürsorge verhindert das Wachsen des kindlichen Selbstvertrauens und schürt die Entwicklung von Ängsten; auch allzu autoritäre Eltern, die ihre Kinder ständig demütigen und jede Autonomie verhindern, provozieren die gleiche Entwicklung. 

Das Positive daran: alles, was erlernt wird, lässt sich auch wieder verlernen! Viele Ängste aus dem Elternhaus oder aus früheren Phasen des Lebens lassen sich förmlich abstreifen wie eine zweite, überflüssig gewordene Haut. 

Voraussetzung ist: ein konsequenter Prozess der Selbsterziehung und das Sich-Lösen aus den alten Verstrickungen. 

Mit dem Rest – einer rascheren Alarmiertheit bei vermeintlicher Bedrohung – kann man besser umgehen lernen. 

Viele Angstpatienten sehen sich gerne als passives Opfer ihrer Eltern, was in dem einen oder anderen Fall durchaus berechtigt sein mag. Geben auch Sie Ihren Eltern alle Schuld für Ihre Ängste? 

Nur wenn Sie selbst zum aktiven „Täter“ werden, können Sie die späten Auswirkungen eines angstmachenden Elternhauses auflösen. 

Kindheit ist nicht Schicksal, sondern kann durch konstruktives Handeln als Erwachsener zumindest teilweise kompensiert werden. 

Nehmen Sie Ihr Leben im Hier-und-Jetzt mit Mut und Vertrauen selbst in die Hand! 

 

Angst ist eine Kraft – nutzen Sie die Chance! 


Angst ist also ein biologisches, psychologisches und soziales Warnsignal und tritt dann auf, wenn unser Körper, unsere Ziele oder unsere Sozialbeziehungen bedroht sind. 

Wir können der Angst eigentlich nur dankbar sein: sie ist eine Kraft, die uns antreibt, endlich etwas anzupacken und aktiv Schritte zu tun! 

Angst motiviert uns zur Bewältigung von realen Bedrohungen, sie hilft unserer Persönlichkeit, sich zu „häuten“ und zu dem Lebensumfeld zu finden, das wir uns wirklich wünschen. Angst fordert, ja – aber sie fördert auch! 

Überlegen Sie nur: individuelle Angst mittleren Ausmaßes verstärkt unsere Anstrengungen in Leistungssituationen und aktiviert unseren Körper und unseren Geist zu Höchstleistungen. 

Und kollektive Angst führt zur Beseitigung negativer gesellschaftlicher Entwicklungen wie etwa Umweltverschmutzung, Ausbeutung der Erde, Beeinträchtigung des Erbgutes, Missbrauch der Atomkraft. 

Angst schützt uns auch vor zu gewagten Handlungen, die unsere Fähigkeiten übersteigen, wie Extrembergsteigen oder zu hohe Geschwindigkeit beim Autofahren.

Kennen Sie den Spruch von Erich Kästner: „Das Leben ist immer lebensgefährlich“? Unser Leben ist ständig Gefahren ausgesetzt; wir können sie nicht beseitigen, sondern nur besser bewältigen und tolerieren lernen! 

 

Angst zeigt auf, was wichtig ist 


Angst hat auch eine existentielle Dimension. Wir fürchten uns zu Recht davor: 

  • etwas zu verlieren, was uns Sicherheit gibt: Eltern, materielle Güter, Gesundheit, Unabhängigkeit;
  • die Zuneigung anderer Menschen zu verlieren, durch deren Anerkennung wir selbstbewusst leben können; 
  • zu versagen, was in unserer Leistungsgesellschaft als Makel gilt;
  • falsche Entscheidungen zu treffen, an deren Folgen wir zu leiden hätten; 
  • zu früh zu sterben, sodass viele unserer Hoffnungen und Erwartungen unerfüllt bleiben könnten.

 

Nur wer nichts und niemand geliebt hat, hat keinerlei Verlustängste. Würden Sie so jemand für glücklich halten? Sie müssen also einen hohen Preis zahlen, wenn Sie tatsächlich keinerlei Ängste haben wollen! 

Es gilt vielmehr, je nach Situation eine angemessene Balance aus Mut, Vorsicht und Angst zu entwickeln, um mit irrealen oder auch tatsächlichen Gefahren besser umgehen zu können. 

Angstbewältigung besteht nicht in der Vermeidung oder gar Verleugnung der Angst, sondern in der konstruktiven Annahme unserer Ängste. 

Nicht die Angst an sich gilt es zu bekämpfen, sondern den richtigen Umgang mit ihr zu lernen. Kooperieren wir doch mit unserer Angst, um dank ihr ohne Einengung unsere Ziele zu erreichen! 

 

 

Der „Dreiklang der Angst“: Körper – Gedanken – Verhalten 

 

Angst zeigt sich primär auf den folgenden drei Ebenen:  

1.  Körperlicher Anteil

Angst ist eine objektiv messbare körperliche Reaktion und äußert sich etwa im Anspannen der Muskeln, in Herzrasen und in Veränderungen der Blutgefäße, des Blutdrucks, des Hautwiderstands und der Gehirnwellen. 

Krankhafte Angst geht immer einher mit bestimmten körperlichen Symptomen. Viele Angstpatienten haben – konstitutionell bedingt – ein rasch ansprechbares vegetatives Nervensystem.   

2.  Subjektiver Anteil (Gedanken und Gefühle)

Angst besteht aus bestimmten gedanklichen Prozessen wie Befürchtungen, Gefühle der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins und aus noch mehr angstmachenden Denkmustern („Es wird bestimmt etwas ganz Schlimmes geschehen“; „Ich kann mir in dieser Situation nicht mehr helfen“; „Mein Herzrasen ist gefährlich und kündigt bestimmt einen Herzinfarkt an“). 

Angstpatienten vergegenwärtigen sich oft sehr plastisch die letzte oder nächste Panikattacke, überschätzen die Wahrscheinlichkeit des Auftretens bedrohlicher Ereignisse und deren Folgen, interpretieren bestimmte körperliche Symptome als Zeichen einer schweren Gesundheitsgefährdung, konzentrieren sich übermäßig auf potentiell gefährliche Situationen, beschäftigen sich zu viel mit Tod, Krankheit und Versagen, verharren in einer ständigen Bedrohungserwartung und können mit einem gewissen Restrisiko nicht umgehen.

3.    Verhalten (motorischer Anteil)

Angst zeigt sich in bestimmten beobachtbaren Verhaltensweisen wie Starrwerden vor Schreck bis zur Regungslosigkeit, Zittern oder Beben, Fluchtreaktion, panikartiges Verhalten, Vermeidung von angstmachenden Situationen, Vermeidung von Blickkontakt. 

Eine Agoraphobie (Platzangst) ist ein Musterbeispiel für eine ständige Fluchtbereitschaft als Sicherheitsmaßnahme. 

 

Diese körperlichen, gedanklich-gefühlsmäßigen und verhaltensbezogenen Anteile spielen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Angststörungen eine ganz entscheidende Rolle, ihre Ausprägung ist jedoch individuell sehr unterschiedlich. 

Bei manchen Menschen stehen eher die körperlichen Symptome im Vordergrund, bei anderen wieder mehr die Gedanken und Gefühlszustände. 

Immer aber werden die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen körperlicher Befindlichkeit, Verhalten, Denken und Gefühlen im Rahmen einer Angstbewältigungstherapie sinnvoll genutzt. 

Denn: 

  • Änderungen im Verhalten führen auch zu Änderungen im Denken. Auf diesem Grundsatz beruhen verhaltensorientierte Therapiemodelle wie die Konfrontationstherapie (in der Verhaltenstherapie). Sie versuchen, den Glauben an die Kontrollierbarkeit angstmachender Situationen zu stärken, indem sie dem Angstpatienten konkrete positive Bewältigungserfahrungen verschaffen. 


  • Änderungen im Denken führen zu Änderungen im Fühlen und Verhalten. Diese Erkenntnis wird bei den einsichtsorientierten Therapien (z.B. der Psychoanalyse) ebenso berücksichtigt wie in der kognitiven Verhaltenstherapie. Neue Sichtweisen führen zu neuen Verhaltensreaktionen. Die glaubhaft vermittelte Information, dass starkes Herzrasen und heftiger Schwindel bei Panikattacken völlig ungefährlich sind und keinesfalls den nahen Tod bedeuten, macht Mut, den körperlichen Schongang aufzugeben und sich wieder etwas mehr zu betätigen. 


  • Änderungen im gefühlsmäßigen Erleben führen zu Änderungen im Verhalten und Denken. Diesen Zusammenhang nutzen stärker emotionszentrierte Therapiekonzepte (z.B. die Gestalttherapie), aber auch bestimmte verhaltenstherapeutische Techniken. 

 

 

Angst beginnt im Kopf: „Wenn einer keine Angst hat, hat er keine Phantasie.“ (Erich Kästner) 

 

Das kennen Sie sicher: allein der Gedanke an Ihre Lieblingsspeise bringt den Speichelfluss gehörig in Gang. 

Oder: bloß an den Kinoschocker von letzter Woche zu denken, führt blitzartig zu Gänsehaut und kalten Händen. 

Sie sehen: allein die anschauliche und plastische Vergegenwärtigung einer vergangenen oder zukünftigen Situation führt zu einer lebhaften körperlichen Reaktion. 

Was für Erfolgserlebnisse und Glücksgefühle gilt, trifft ebenso auf Angst- und Panikzustände zu. 

Denn: der Körper reagiert nicht nur auf die äußere Realität, sondern auch auf innere Zustände wie Erinnerungen und Befürchtungen. 

Allein die gedankliche Vorstellung einer gefährlichen Situation mobilisiert den Körper blitzartig mit dem Ziel, dieses vermeintliche Gefahrenmoment möglichst rasch abzuwenden. 

Dieser Mechanismus ist auch dann grundsätzlich sinnvoll und lebensnotwendig, wenn – wie dies häufig der Fall ist – eine Situation irrtümlich als bedrohlich eingeschätzt wird. Jeder kennt den Spruch „Das gebrannte Kind fürchtet das Feuer“. 

Aber worauf soll damit eigentlich hingewiesen werden? Wohl in erster Linie auf die große Bedeutung des Gedächtnisses in Zusammenhang mit – in diesem Fall – einer bedrohlichen Situation. 

Die negative Lernerfahrung des Kindes mit dem Feuer bestimmt darüber, wie es sich jetzt und später dem Feuer gegenüber verhält. Das Gedächtnis speichert wie eine Festplatte Lernerfahrungen, die über unser künftiges Verhalten in ähnlichen Situationen bestimmen. Noch ein Beispiel. 

Es gibt wohl niemand, der bei Grün über den Zebrastreifen ginge und diesem Ereignis eine große Bedeutung beimessen würde. Gewöhnlich vertrauen wir bestimmten Menschen und Situationen ohne Furcht und Argwohn, in unserem Beispiel eben darauf, dass die Autos uns unbehelligt über die Straße gehen lassen. 

Ganz anders aber nach einer negativen Erfahrung. Eine Frau ging zum x-ten Mal voll Vertrauen über den Zebrastreifen vor ihrem Haus. Das erste Auto blieb korrekt stehen, der Fahrer des zweiten jedoch wollte unbedingt noch vorbeifahren und stieß die Frau mitten auf der Straße nieder. Nach einem langen Krankenhausaufenthalt hatte sie monatelang mit schweren Ängsten zu kämpfen, wann immer sie eine Straße überqueren wollte. 

Nach derartigen Erfahrungen müssen unser Geist und unser Körper wieder unterscheiden lernen, wie sinnvoll eine heftige Angstreaktion in bestimmten Situationen ist, ohne dass ständig eine Überreaktion in tatsächlich ungefährlichen Situationen erfolgt. 

Es gilt, wieder die Balance zu finden zwischen gerechtfertigten bzw. angemessenen Angstreaktionen und übertriebenen oder grundlosen.  

Dieses Beispiel zeigt aber auch sehr deutlich, wie schwer es Angstpatienten fällt, wieder Vertrauen in die Umwelt und in den eigenen Körper zu finden, wenn eine gewöhnlich vernachlässigbare Restgefahr tatsächlich einmal eingetreten ist. 

Dies gilt für jede Form eines gewaltsamen Übergriffs von außen, aber auch für all jene Fälle, wo etwa nach einer ärztlichen Untersuchung ohne organischen Befund („Es ist alles psychisch“) schließlich doch eine körperliche Ursache der Störung gefunden wurde. 

Eine starke Vorstellungskraft und eine rege, bunte Phantasie: das sind Begabungen, die für jede künstlerisch-kreative Tätigkeit erforderlich sind. Bei Ängsten wirken sie sich aber sehr ungünstig aus. 

Menschen mit einer Neigung zu Angststörungen haben oft ein sehr ausgeprägtes bildhaftes Denken („Was wäre, wenn…“) und betreiben in ausgefeilten inneren Dialogen eine „negative Selbsthypnose“, das heißt sie können sich gefürchtete Zustände und Situationen so intensiv vergegenwärtigen, als wären sie real vorhanden. 

Wie ein Regisseur gestalten sie perfekt inszenierte innere Filme und Dramen, die Grenzen zwischen Realität und Phantasie verschwimmen.  

Dieses bildhafte Denken ist aber auch eine Begabung und sollte sowohl bei der Selbsthilfe als auch in einer Psychotherapie konstruktiv genutzt werden. Solche phantasiebegabte Angstpatienten können durchaus lernen, ihren Angstfilm im Kopf positiv zu Ende zu denken, sodass statt der Katastrophe eine positive Form der Angstbewältigung erfolgt.
  

Wann immer Sie sich dazu durchringen können, sich Ihre Angstsituationen als bewältigbar vorzustellen, haben Sie schon viel geschafft! 

Auf jeden Fall wird die Bereitschaft verstärkt, sich dieser Situation zu stellen, anstatt ihr wie bisher immer auszuweichen. Denken Sie immer daran: jeder Weg, und sei er noch so weit, beginnt mit einem einzigen von tausenden Schritten. 


Wie man sich Angst machen kann 


Die Macht der Gedanken wurde bereits vom griechischen Philosophen Epiktet (um 200 n. Chr.) sehr treffend formuliert: „Nicht die Dinge an sich sind es, die uns beunruhigen, sondern die Art und Weise, wie wir sie sehen.“ Wie sehr dies auch auf Angstzustände zutrifft! 

Krankhafte Angst entsteht aus der Bewertung von Situationen und Zuständen und resultiert nicht einfach aus den „Dingen an sich“. Und ist das nicht eigentlich auch sehr beruhigend? 

Oft ist nicht die Situation an sich angstvoll, sondern das, was wir in Gedanken aus ihr machen. 

Menschen mit Angststörungen neigen nun eben dazu, unwahrscheinliche, negative Ereignisse als sehr wahrscheinlich einzuschätzen und können ein bestimmtes Restrisiko nur sehr schwer ertragen. 

Die häufigsten dieser kognitiven Spiralen basieren auf einem extremen Sicherheitsdenken („Ich muss über alles informiert sein und jede mögliche Gefahr ausklammern, man kann ja nie wissen“) und einem furchtsamen Umgang mit neuen Situationen („Ich möchte lieber nichts Neues ausprobieren, es könnte ja gefährlich sein“).

Viele Angstpatienten schätzen aufgrund einer besonderen Sensibilität bestimmte körperliche Zustände, Umstände und Situationen viel gefährlicher ein als sie tatsächlich sind:  

  • Herzrasen/Schwitzen/Atembeschwerden („Ich bekomme jetzt bestimmt einen Herzinfarkt“); 
  • Schwindel/Übelkeit/Benommenheit („Gleich falle ich in Ohnmacht“);
  • Atemnot/Würgegefühl/Kloß im Hals („Bald ersticke ich“);
  • Kribbeln in den Extremitäten („In Kürze bin ich gelähmt durch einen Gehirnschlag“);
  • Magenbeschwerden („Bestimmt habe ich Krebs, und kein Arzt kann mir rechtzeitig helfen“);
  • Schwindel („Wahrscheinlich habe ich einen Kopftumor, und keiner findet ihn“); 
  • den Aufenthalt in einem Geschäft („Hoffentlich falle ich jetzt nicht um, wie es mir vor drei Monaten fast passiert wäre“);
  • die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel („Bestimmt wird mir schlecht und ich muss öffentlich erbrechen oder ich bekomme einen Harn- oder Stuhldrang“);
  • den Anblick eines Hundes („Bestimmt wird mich der Hund beißen“);
  • Lift fahren („Der Lift könnte stundenlang stecken bleiben“);
  • einen Vortrag halten („Wahrscheinlich wirke ich nervös und alle halten mich für psychisch nicht belastbar“);
  • den Aufenthalt in einer kleinen Gruppe („Einige Leute werden mich bestimmt nicht mögen“);
  • die Verspätung des Kindes („Bestimmt hat mein Kind einen Unfall erlebt“);
  • die Erkrankung einer älteren Mutter („Wahrscheinlich wird meine Mutter bald sterben“); 
  • verschmutzte Hände („Bestimmt war das, was ich angegriffen habe, verseucht, sodass ich mich jetzt gründlich waschen muss“); 
  • rasch erledigte Arbeiten („Wahrscheinlich habe ich etwas falsch gemacht, sodasss ich alles nochmals kontrollieren muss“). 

 

Angst als Stressreaktion 


Unter Stress versteht man ganz allgemein alle körperlichen und seelischen Belastungen (Stressoren) sowie auch die Reaktion auf diese Belastungen. 

Stress entsteht nicht einfach nur durch das Auftreten eines Stressors wie eines Todesfalls, einer Scheidung oder einer Kündigung, sondern hängt vor allem auch davon ab, wie der Betroffene damit umgeht und ob er die Situation subjektiv als mehr oder weniger belastend bewertet. 

Ein Gefühl der Kontrolle und Einflussmöglichkeit vermindert die Auswirkungen eines Stressors, ein Gefühl mangelnder Kontrollierbarkeit und Machtlosigkeit verstärkt jeden Stress. 

Angst- und Panikstörungen sind oft die Folge einer stark belastenden und schon länger andauernden Situation, die als nicht oder nicht mehr bewältigbar empfunden wird. 

Während man diese Herausforderung früher spielend bewältigt hätte, ist nun das Maß der Anspannung zu groß, um sozusagen das Ruder noch herumreißen zu können. 

Gerade Panikattacken haben oft den Hintergrund einer bereits lang andauernden, hohen Stresssituation. Da reicht dann oft nur noch ein zusätzlicher Stressor als Auslöser wie etwa ein Streit mit dem Partner und das Fass schwappt endgültig über. 

Angst- und Panikzustände lassen sich anhand des Stressmodells gut erklären; es sind Reaktionen, denen dieselben körperlichen Vorgänge wie jedem anderen Stress zugrunde liegen. 

In biologischer Hinsicht werden im Übrigen auch Depressionen in zunehmendem Ausmaß als Stressreaktionen interpretiert. 

Hans Selye, der Begründer der Stressforschung, beschrieb jeden körperlichen und seelischen Stress als „allgemeines Anpassungssyndrom“ des Körpers an den Stressor und unterschied dabei drei Phasen:  

 

1.  Alarmreaktion bei akutem Stress

„Paahh, da hab ich aber einen Adrenalinausstoß gehabt...“ Diesen oft so salopp hingesagten Satz kennt wohl jeder. Und tatsächlich spielen sich bei jeder akuten körperlichen oder seelischen Belastung in Bruchteilen von Sekunden unglaublich viele Prozesse ab. 

Das limbische System im Gehirn, namentlich der sogenannte Mandelkern, steuert den Angst-Flucht-Reflex, das Kurzstresshormon Adrenalin und das Dauerstresshormon Kortisol aktivieren blitzartig das gesamte vegetative Nervensystem und rütteln den ganzen Körper wach. 

Zuerst tritt jedoch eine kurze Schockphase auf, die Sie bestimmt schon oft als die berühmte „Schrecksekunde“ selbst erlebt haben. 

Dabei schaltet das vegetative Nervensystem einen Moment lang auf kurzfristige Reaktionsunfähigkeit um, die dem Atemholen, Kräftesammeln und Abschätzen der Gefahr dient, oft verbunden mit Kreislaufschwäche, Schwindel, Ohnmachtsangst, Atemnot, Übelkeit, Magenkrämpfen, Harn- oder Stuhldrang, Durchfall, Muskelschwäche („weichen Knien“), Erröten, Weinkrämpfen. 

Nach dieser Schockphase stellt sich der Körper in der Kampf- oder Fluchtphase auf eine kurzfristige Höchstleistung ein. Man spricht von einer „Bereitstellungsreaktion“ oder „Notfallreaktion“. 

Ein kräftiger Adrenalinschub aktiviert Herz- und Kreislaufsystem, Atmung, Skelettmuskulatur, Hirnwellen und geistige Aufmerksamkeit und blockiert im gleichen Moment alle Vorgänge, die jetzt in dieser Ausnahmesituation nicht benötigt werden (Appetit, Verdauung, Immunabwehr etc.). Alle Energien sind ausschließlich auf die Bewältigung der aktuellen Stresssituation fokussiert. 

Innerhalb einer Minute erfolgt diese intensive Phase der Mobilmachung für Flucht oder Kampf, wobei diese beiden Begriffe nicht unbedingt wörtlich zu nehmen sind. Mit „Kampf“ ist eher ein aktives Herangehen an die Situation gemeint, mit „Flucht“ jede Art von Rückzug, also auch Fluchtimpulse. 

Dass gerade die körperliche Leistung bei Stress im Vordergrund steht, zeigt, wie ursprünglich diese Reaktion in der Evolution ist. 

Bei unseren Vorfahren entschieden rein körperliche Aspekte wie Kraft und Schnelligkeit über Leben oder Tod in einer Stresssituation – eine Verhaltensweise, die nach wie vor tief in uns verankert ist. 

Interessanterweise läuft der gleiche körperliche Reaktionsmechanismus auch dann ab, wenn Situationen nur als bedrohlich vorgestellt werden, das heißt der Körper unterscheidet nicht zwischen realen und vorgestellten Gefahren. 

Bei psychischem Stress ist die körperliche Mobilisierung meist zu stark, weil ja keine entsprechende Aktivität wie Kampf oder Flucht erforderlich ist. 

Die Folgen sind: ein körperlicher Anspannungszustand, der mangels Bewegung bestehen bleibt; ein Aufbau von Energie und eine Beschleunigung von Stoffwechselvorgängen, wie dies gar nicht notwendig ist. 

 

2.  Widerstandsstadium bei chronischem Stress

Damit ist jene Zeitspanne gemeint, während der die extreme Aktivierung des Körpers andauert. Meist setzt einige Minuten nach Beginn des Alarmstadiums ein Gegenregulativ ein, um den Körper wieder in Balance zu bringen, was oft mit einer erhöhten Magen- und Darmtätigkeit, mit Übelkeit etc. verbunden ist. 

Ein gefährlicher Nebeneffekt von Dauerstress: der Körper ist anfälliger für Krankheiten, da dafür kaum mehr Abwehrreserven zur Verfügung stehen.  

  

3.  Erschöpfungsphase bei unzureichender Stressbewältigung

Wenn der Stresszustand erfolgreich bewältigt wurde, setzen nun Entspannung und Erholung ein – wenn nicht, arbeitet das überaktive Nervensystem weiter, es kommt zu Irritationen der sonst perfekt eingespielten vegetativen Abläufe und letztendlich zu verschiedenen psychovegetativen und psychosomatischen Dauerstörungen. 

Nach dem Motto „Das schwächste Glied in der Kette reißt zuerst“ entwickeln sich in jenen Organbereichen Störungen, bei denen man am anfälligsten ist. 


Angst, Aufregung und Stress lösen bestimmte biologisch sinnvolle vegetative Reaktionen aus, im negativen Fall aber auch belastende Fehlregulierungen. 

Alles, was zu einem drastischen Anstieg des Adrenalinspiegels im Blut führt, kann eine Panikattacke auslösen. Die Alarmierung des Körpers kann dabei durch körperliche oder seelische Stressoren erfolgen. 

Panikattacken treten oft erst nach einer starken körperlichen oder seelischen Belastung auf. War der Stresshormonspiegel über einen längeren Zeitraum erhöht, sinkt er nämlich mit nachlassender Belastung nicht sofort auf das Normalmaß zurück, sondern wird oft erst über eine Panikattacke abgebaut. 

Dies erklärt das häufige Auftreten von Panikattacken in Phasen beginnender Ruhe, das heißt wenn man sich gerade niedergesetzt oder in das Bett gelegt hat. 

Panikattacken können sogar im Schlaf auftreten, und zwar dann, wenn die chronische Verspannung erst im Schlaf nachlässt. Eine derartige Symptomatik ist mit einer Wochenendmigräne vergleichbar. 

Gerade aber dieser Umstand, dass man sich die ungewohnten körperlichen Reaktionen im Ruhezustand nicht erklären kann, führt zu neuerlicher Unruhe und ängstlicher Beobachtung des Körpers und somit erst recht wieder zur Verstärkung der körperlichen Symptome. 

 

Brett vor dem Kopf: Angst kann das Denken blockieren


Wer kennt das nicht: da hat man sich bestens vorbereitet auf eine wichtige Prüfung, fühlt sich sicher und kompetent – und in der besagten Situation ist plötzlich alles anders, das ganze Wissen wie weggezaubert, man ist wirr und durcheinander und kann keinen klaren Gedanken fassen. Das berühmte „Brett vor dem Kopf“! 

Nicht wenige Panikpatienten befürchten, durch die Intensität der Angstzustände verrückt zu werden, das heißt sie glauben irrtümlich, durch den starken Gefühlsdruck den Verstand zu verlieren. 

Wenn Angst ein so extremes Ausmaß annimmt, dass es zum Zusammenbruch des gesamten geordneten Denkens und Handelns kommt, spricht man von Panik. 


In bestimmten Katastrophensituationen – man denke nur an den 11. September 2001 in New York – wird Angst fast unweigerlich zur Panik. 

Panik im Sinne eines katastrophenbedingten Massenphänomens ist eine akute Angstreaktion mit verminderter Selbstkontrolle; die Betroffenen flüchten blind, unüberlegt, unorganisiert und ohne Rücksicht auf soziale Aspekte. 

Panik in Menschenmassen tritt dann auf, wenn keine Fluchtmöglichkeit mehr geortet wird. 

Das größte Ausmaß an Panik entsteht aber bei einer mittleren Wahrscheinlichkeit, sich retten zu können. 

Dies erklärt das ständige Auf-dem-Sprung-Sein vieler Angstpatienten, wenn sie in einer Angstsituation eine Fluchtmöglichkeit sehen (die Vorstellung von Flucht aktiviert zur Flucht). 

Während ein dosiertes Angstausmaß die Aufmerksamkeit, Wachheit, intellektuelle und motorische Leistungsbereitschaft erhöht, führen übermäßige Ängste zur Beeinträchtigung des Denkens, der Konzentration und des Verhaltens bis hin zur totalen Angstblockade. 

Der Zusammenhang zwischen Angst und Leistung entspricht dem folgenden Verhältnis: zu wenig Angst macht uns sorglos, träge und antriebslos, zu viel Angst macht uns ungeschickt, gehemmt und gelähmt, während uns ein mittleres Angstausmaß zu Höchstleistungen motiviert und aktiviert. Ein mittleres Ausmaß an Erregung garantiert demnach eine optimale Leistungsfähigkeit. 

Ein gewisses Ausmaß von Angst bewahrt uns auch vor Routine und bewirkt, dass wir „echt“ sind und immer wieder unser Bestes geben. In diesem Sinn ist das Lampenfieber von Schauspielern und Sängern zu verstehen, die behaupten, nicht mehr so gut zu sein, wenn sie vor dem Auftritt nicht mehr nervös seien. 

Auch erfolgreiche Leute sind in schwierigen Situationen angespannt, halten dies jedoch für normal, weil Angst einfach den Körper mobilisiert, um zu einer Lösung zu gelangen.

Im Wort „Emotion“ steckt das lateinische Wort motio, das „Bewegung“ bedeutet, das heißt Gefühle sollen unseren Körper zu einer Handlung bewegen.

Nützlich ist jene Angst, die uns hilft, im Hier-und-Jetzt zu handeln. Blockierend ist jene Angst, die uns bei der Vorstellung drohender Gefahr in unseren aktuellen Handlungsmöglichkeiten einschränkt. 

 

 

Lebenseinengende Angst macht krank

 

Wie zieht man aber die Linie zwischen förderlicher und hemmender Angst? Wir bezeichnen Angst dann als krankhaft, wenn sie das Leben so stark einengt, dass die soziale und berufliche Funktionsfähigkeit beeinträchtigt ist und über einen längeren Zeitraum ein großer individueller Leidensdruck gegeben ist. Dann spricht man von einer „Angststörung“.

Das Wort „Störung“ wird heute gegenüber der Bezeichnung „Krankheit“ bevorzugt, weil damit kein rein biologisches Erklärungsmodell verbunden ist.

Eine Angststörung

·         tritt ohne reale Bedrohung auf,

·         dauert auch nach der Beseitigung einer realen Bedrohung an,

·         tritt unangemessen, zu stark und zu häufig auf,

·         dauert zu lange an,

·         ist mit starken körperlichen Symptomen verbunden,

·         kann hinsichtlich Auftreten und Dauer nicht kontrolliert werden,

·         ist nicht durch bestimmte Bewältigungsstrategien in den Griff zu bekommen,

·         kann nicht durch bestimmte Erklärungskonzepte gemildert werden,

·         ist mit belastenden Erwartungsängsten („Angst vor der Angst“) verbunden,

·         führt zur Vermeidung angstmachender, objektiv ungefährlicher Situationen,

·         führt zur Unterlassung wichtiger Aktivitäten,

·         schränkt das Leben übermäßig ein,

·         führt zu individuellen Belastungen und Leidenszuständen. 

 

Krankhafte Ängste können unter drei verschiedenen Bedingungen auftreten: 

  1. Körperliche Zustände, Situationen oder Objekte werden falsch, nämlich als gefährlich eingeschätzt. 
  2. Die Alarm- und Bedrohungsstrukturen sind gestört. Es liegen Krankheitsprozesse des Gehirns vor. 
  3. Das Warnsignal der Angst klingt nicht ab. Es erfolgt keine Gewöhnung (Habituation) an die Angst, sondern die Erregung nimmt im Gegenteil sogar noch zu, wie dies etwa bei der posttraumatischen Belastungsstörung der Fall ist.


Mit verschiedenen starken Ängsten kann man vorübergehend ganz gut leben. Es liegt alleine in Ihrem Ermessen, ob Ihre Angst behandelt werden sollte oder nicht. 

Nur Sie können beurteilen, wie stark die Angststörung Ihr Leben einschränkt und wie hoch der Druck ist, unter dem Sie leiden. 

 

Angststörungen als Ausdruck von Veränderungen im Leben

 

Leben bedeutet Veränderung, Fortschreiten von einer Lebensphase zur anderen. An diesen ganz normalen Aufgaben, die das Leben uns stellt, reifen wir als Menschen. 

Übergänge im Rahmen des Lebenszyklus sind oft auch sehr kritische und fast dramatische Ereignisse, die zu psychischen Störungen führen können, wenn sie nicht bewältigt werden. 

Angststörungen spiegeln oft die Furcht vor Veränderungen wider, die durchaus als notwendig erkannt werden. Das Alte befriedigt nicht mehr, das Neue macht jedoch Angst. 

Die Angst kann nicht als Kraft genutzt werden, sondern führt dazu, dass keine neuen Wege beschritten werden. 

Eine unglücklich machende Partnerschaft, ein belastendes Zusammenleben mit den Eltern, ein frustrierender Arbeitsplatz oder eine unpassende Berufstätigkeit können häufig nicht aufgegeben werden aus Angst vor der Ungewissheit der Zukunft. Es fehlt das Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten. 

Zwangsstörungen drücken nicht selten die Schwierigkeit aus, das Vergangene vergangen sein zu lassen. Das Geschehene muss immer wieder neu auf mögliche Fehler überprüft werden, sodass die Möglichkeit zu neuen Entwicklungen eingeschränkt ist. 

Man beschäftigt sich lieber mit dem Vertrauten, obwohl dies schon bald unerträglich erscheint, anstatt etwas Neues zu wagen. Es fehlt der Mut zum Risiko. 

Und wenn doch neue Möglichkeiten erwogen werden, können Menschen mit einer Zwangsstörung nicht so einfach resignieren wie Menschen mit einer typischen Angststörung. Sie suchen nach einem Weg, wie sie eine Aufgabe perfekt bewältigen können, denn Perfektion wäre eine Garantie, ein befürchtetes Versagen zu vermeiden. 

Ein zwanghafter Perfektionismus ist oft auch ein Bewältigungsversuch von sonst nicht erträglichen Ängsten: wenn alles perfekt ist, braucht man sich nicht mehr zu fürchten – was sich bald als zusätzliches Problem herausstellt, denn es ist nie alles perfekt vorbereitet.

Depressionen drücken oft die Schwierigkeit aus, von einer bereits vergangenen Lebensphase auch innerlich Abschied nehmen und sich auf neue Lebensmöglichkeiten einstellen zu können. 

Eine zu Ende gegangene Beziehung, der Tod eines geliebten Menschen, der Verlust materieller Sicherheit, der Auszug von Zuhause, der Umzug in eine neue Gegend, das Nachlassen der körperlichen und geistigen Vitalität sind oft nur schwer zu verkraften, was die weitere Lebensentwicklung blockieren kann. 

Es fehlt die Kraft zum Loslassen, der Mut zum Abschied-Nehmen. Doch nur im Loslassen alter, überholter Dinge kann Neues wachsen! 

Es ist völlig normal, sich vor neuen Lebenssituationen zu fürchten, sodass in Übergangszeiten krisenhafte Entwicklungen auftreten können, die noch keineswegs pathologisch zu bewerten sind. 

Erst falsche Problemlösungsversuche machen aus einer normalen Lebenskrise eine klinisch relevante Beeinträchtigung. 

Wenn ganz normale Ängste vor dem Neuen und der Zukunft in Übergangszeiten durch Vermeidungstendenzen im Sinne einer Angststörung oder durch einen Perfektionismus im Sinne zwanghafter Absicherungstendenzen zu bewältigen versucht werden, weil das Vertrauen in das richtige Handeln in der Zukunft in Frage gestellt erscheint, entsteht Stagnation. 

Diese Gefahr ist um so größer, je mehr gleichzeitig unbewältigte Dinge aus der Vergangenheit die Ressourcenaktivierung blockieren. 

Psychische Störungen sind oft charakterisiert durch einen Wechsel der Symptomatik. 

Wer ängstlich war, wird aufgrund mangelnder Erfolgserlebnisse häufig auch noch depressiv. 

Wer nicht depressiv werden möchte, wird nicht selten zwanghaft-perfektionistisch, um befürchteten Schuldgefühlen bei Versagen zu entgehen.