Ängste - Angststörungen
Normale Ängste – wenn Angst das Leben schützt
Angst – eine überlebenswichtige Emotion
Angst ist ein biologisch festgelegtes Alarmsignal wie Fieber oder Schmerz. Es handelt sich dabei um eine starke emotionale und körperliche Reaktion auf bedrohlich, ungewiss oder unkontrollierbar beurteilte Ereignisse, Situationen, Gedanken und Vorstellungen.
Angst alarmiert unseren Körper zur Vorbereitung auf Kampf oder Flucht und ermöglicht uns damit ein schnelles Handeln, wenn dieses ohne langes Nachdenken geboten erscheint.
Wir sind durch Angst schon „auf dem Sprung“, um bei einer tatsächlichen Bedrohung von Leib und Leben rasch reagieren zu können.
Akute Angst (Furcht) als körperliche Notfallreaktion zur Sicherung des Überlebens tritt bereits auf, bevor eine äußere oder innere Bedrohung bewusst wahrgenommen wird.
Nach der Abwehr einer Bedrohung kehrt der Organismus bald wieder in den Ruhezustand zurück.
Andauernde Angst ohne reale Gefahr stellt eine permanente Fehlalarmierung des biologisch sinnvollen Kampf-Flucht-Systems dar. Eine derartige chronische Übererregung führt im Laufe der Zeit zu Erschöpfungszuständen und psychosomatischen Beschwerden.
Angst gilt – genauso wie Traurigkeit, Wut, Ekel, Verachtung, Freude oder Überraschung – als Basisemotion, die am Gesichtsausdruck von Menschen aller Kulturen gleichermaßen erkannt werden kann.
Im Wort Emotion steckt das lateinische Wort motio – auf Deutsch Bewegung. Gesunde Angst möchte uns in Bewegung versetzen, unser Leben zu schützen, unser Wohlbefinden sicherzustellen und alle möglichen Bedrohungen rasch abzuwehren.
Es ist kein sinnvolles Ziel, ohne Angst leben zu wollen. Es kommt vielmehr darauf an, die Kraft der Angst zu nutzen, um reale Gefahren für uns und unsere Umwelt zu beseitigen oder wenigstens zu vermindern, um unsere Lebensqualität auch für die Zukunft sicherzustellen oder sogar zu verbessern.
Betrachten Sie Ihre Angst nicht als bösen Feind, den Sie besiegen müssen, bevor Sie ein glückliches und erfülltes Leben führen können, sondern als liebe Freundin und gutmeinende Mahnerin, als Ihren Schatten, der Sie überallhin begleitet, den Sie nicht loswerden können, doch Sie bestimmen den Weg, im Vertrauen auf Ihre Fähigkeiten, Ihren Mut und Ihre Entschlossenheit, mit und trotz Angst das zu tun, was Ihnen aufgrund Ihrer Bedürfnisse, Werte und Ziele wichtig ist.
Drei Grundformen von Angst: Erwartungsangst – Furcht – Panik
„Angst“ gilt als Überbegriff für drei unterschiedliche Ausdrucksformen: Furcht, Panik und Erwartungsangst („antizipatorische Angst“).
Furcht ist die Reaktion auf eine akute Bedrohung in der Gegenwart, die mit einer Kampf-Flucht-Reaktion zur Sicherung des Lebens einhergeht.
Eine krankheitswertige Ausprägung in Form einer Phobie entwickelt sich dann, wenn objektiv völlig ungefährliche Objekte, Orte und Situationen vorschnell als reale Bedrohungen wahrgenommen und entsprechende Flucht- und Vermeidungsstrategien eingesetzt werden – zum Nachteil (und nicht zum Schutz) von Leib und Leben.
Panik ist eine starke Furcht, die in einer massiven körperlichen und psychischen Aktivierung besteht.
Bei krankheitswertiger Ausprägung werden einzelne, an sich normale und ungefährliche Panikattacken andauernd im Sinn eines falschen Alarmsignals als unmittelbare Bedrohung für Leib, Leben und Verstand bewertet.
Angst im Sinn einer Erwartungsangst ist die Befürchtung einer möglichen Bedrohung in der Zukunft, während gegenwärtig keine akute Gefahr besteht.
Die ängstliche Erwartung einer unbestimmten Bedrohung zu einem ungewissen Zeitpunkt, die man im Hier und Jetzt nicht durch konkretes Handeln völlig abwehren, ja oft nicht einmal vermindern kann, bewirkt eine unangenehme geistige, psychische und körperliche Daueranspannung, die die Lebensqualität erheblich beeinträchtigt.
Wenn derartige diffuse oder ständig wechselnde Bedrohungserwartungen ohne mentale Kontrolle und ohne zeitliche Begrenzung immer mehr ausufern, entsteht daraus das krankheitswertige Bild einer Generalisierten Angststörung.
Das Wichtigste noch einmal in aller Kürze:
- Furcht ist eine gerichtete Angst und subjektive Bedrohung durch äußere Gefahren im Hier und Jetzt.
- Panik ist eine extreme Furcht mit einer massiven körperlichen und/oder geistigen Überwältigung.
- (Erwartungs-)Angst ist ein Gefühl unbestimmter Bedrohung durch zukünftige Gefahren.
Oder noch knapper zusammengefasst: Die subjektive Bedrohung geht bei Furcht von der aktuellen Umwelt, bei Panikattacken vom eigenen Körper und bei Erwartungsangst von der Zukunft aus.
Diese drei Grundformen von Angst – Erwartungsangst, Furcht und Panik – sind normale psychische und körperliche Reaktionen angesichts von Unsicherheit und realer oder vermeintlicher Bedrohung; krankheitswertig werden sie erst durch die Unfähigkeit, damit erfolgreich umgehen zu können.
Jede dieser drei Angstformen kann in eine andere übergehen: Angst kann zu einer situationsspezifischen Furcht werden, Furcht kann bis zu einer heftigen Panikattacke ansteigen, aus objekt- und situationsspezifischer Furcht sowie erlebten Panikattacken können im Laufe der Zeit belastende Erwartungsängste werden.
Vier Ebenen von Angst: Körper – Gedanken – Gefühle – Verhalten
Angst und Furcht gehen mit bestimmten Gedanken, Vorstellungen, Erinnerungen, anderen Emotionen, körperlichen Symptomen und sichtbaren Verhaltensweisen einher.
Angst umfasst vier Komponenten, die bei Angststörungen ein sehr belastendes Ausmaß annehmen und das Leben erheblich einschränken:
1. Emotionale Komponente
Ängste bestehen aus unterschiedlichen Arten, die oft auch mit anderen Gefühlen zusammenhängen:
- Angst als angemessene (adaptive) primäre Emotion angesichts einer unmittelbaren Bedrohung in der Gegenwart.
- Angst als unangemessene (maladaptive) primäre Emotion angesichts einer relativ harmlosen Situation in der Gegenwart, die jedoch an frühere schlimme Erfahrungen und Gefühle in der Vergangenheit erinnert, z.B. an ein traumatisches Erlebnis, wie etwa körperliche oder sexuelle Gewalt.
- Angst als sekundäre Emotion in Form der „Angst vor der Angst“ (Erwartungsangst), z.B. Angst vor einer weiteren Panikattacke oder einer neuerlichen Traumatisierung.
- Angst als sekundäre Emotion in Bezug auf eine andere Emotion, z.B. Angst vor Wut, Scham, Peinlichkeit, Traurigkeit, Enttäuschung, Hilflosigkeit, Schuldgefühle.
- Angst als sekundäre Emotion in Bezug auf bestimmte Gedanken, z.B. Angst vor unkontrollierbaren Katastrophen-Gedanken („Was wäre, wenn …?“-Horrorszenarien).
2. Kognitive Komponente
Ungünstige oder gar schädliche (dysfunktionale) Denkmuster wirken angstmachend oder zumindest angstverstärkend, z.B. Überaufmerksamkeit auf Gefahren, Überschätzung von Gefahren bei gleichzeitiger Unterschätzung der eigenen Bewältigungsmöglichkeiten, erhöhtes Kontrollbedürfnis, Intoleranz gegenüber jeder Form von Unsicherheit, Fixierung auf den Ausschluss eines Restrisikos, perfektionistisches Anspruchsniveau, Bewertung harmloser körperlicher Symptome als bedrohlich mit angstmachender Verstärkung der Beschwerden („Teufelskreis der Angst“), falsche Schlussfolgerungen von Angstgefühlen und Körpersymptomen auf eine äußere Gefahr („emotionaler Trugschluss“), vorschnelle Gleichsetzung („Fusion“) von bestimmten Gedanken und Vorstellungen einerseits und der Realität andererseits.
3. Körperliche Komponente
Angst und Furcht angesichts von Bedrohung oder Unsicherheit bewirken eine körperliche Aktivierung zur Sicherung von Leib und Leben. Je nach Angststörung und Persönlichkeit stehen unterschiedliche Symptome im Mittelpunkt des Erlebens.
Typisch sind zwei Arten von Fehlregulationen:
Störungen des vegetativen Nervensystems
Es handelt sich um sogenannte „vegetative“ Störungen, wie etwa Herz-Kreislauf-Symptome (z.B. Pulsbeschleunigung, Schwitzen, Ohnmachtsneigung), Magen-Darm-Beschwerden (z.B. Übelkeit, Magenschmerzen, Stuhldrang), Atembeschwerden (z.B. Atemnot, Hyperventilation), urogenitale Beschwerden (z.B. Harndrang), Schwindelgefühle.
Vegetative Symptome dominieren bei akuter Angst und Furcht sowie bei Panikattacken. Eine Herzratenbeschleunigung ist sowohl bei Panikattacken als auch bei vielen Phobien nachweisbar.
Bei einer Generalisierten Angststörung besteht oft eine verminderte „Vagus-Bremse“: Das parasympathische Nervensystem, das für Entspannung und Regenerierung zuständig ist, kommt angesichts des übersteuerten sympathischen Nervensystems, das für Aktivität und Leistung zuständig ist, nicht ausreichend zur Geltung, was sich in einer verminderten Herzratenvariabilität zeigt: Der Puls bleibt auch ohne Bewegung dauerhaft erhöht und schwankt nicht in Abhängigkeit von Aktivität oder Ruhe.
Störungen des Zentralnervensystems
Es handelt sich um sogenannte „zentralnervöse“ Störungen, wie etwa Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, rasche Ermüdbarkeit, Schlafstörungen, innere Unruhe, chronische Muskelverspannungen (Kopf-, Brust- und Rückenschmerzen).
Derartige Symptome dominieren vor allem bei einer Generalisierten Angststörung, als Folge des ständigen Sich-Sorgen-Machens, wenngleich dabei auch vegetative Symptome von Bedeutung sind.
4. Verhaltenskomponente
Das beobachtbare Verhalten zeigt sich in ständigem Flucht- und Vermeidungsverhalten, „kopflosem“ (panikartigem) Verhalten, motorischer Unruhe, Ruhelosigkeit, Starrwerden vor Schreck, Hektik und Nervosität, Reizbarkeit, Vermeidung von Blickkontakt, sichtbaren Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, zahlreichen Sicherheitsstrategien zur Angstverminderung und Absicherung gegenüber jedem Restrisiko.
Wenn Angst krankhaft wird, spricht man von Angststörungen. Angst wird dann krankhaft, wenn sie zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Lebensqualität und der schulischen, beruflichen, familiären, sozialen und privaten Funktionsfähigkeit führt.
Krankhafte Ängste sind dadurch charakterisiert, dass sie ohne reale Bedrohung auftreten, zu lange andauern, zu stark und zu häufig auftreten, mit unangenehmen körperlichen Symptomen verbunden sind, mit ausgeprägten Erwartungsängsten einhergehen, nicht bewältigbar erscheinen, das Leben erheblich einschränken und starkes Leiden verursachen.
Angststörungen – wenn Angst krank macht
Angststörungen nach dem ICD-10
Bis zur Jahrtausendwende gab es nur zwei Angststörungen: die Angstneurose und die Phobie. Diese Zweiteilung stammt von Sigmund Freud.
Bereits 1895 beschrieb er die Angstneurose als eine Mischung von Panikattacken, ängstlichen Erwartungen, allgemeiner Reizbarkeit und erhöhter Sensibilität und die Phobie als Angsthysterie.
Das internatione Diagnoseschema ICD-10, das in Deutschland seit 2000 und in Österreich seit 2001 verbindlich ist, listet fünf Angststörungen auf:
drei Arten von Phobien (Agoraphobie, Soziale Phobie und Spezifische Phobien) und (anstelle der Angstneurose) zwei Sonstige Angststörungen (Panikstörung und Generalisierte Angststörung).
Das neue ICD-11, das im Jahr 2019 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verabschiedet wurde und in den kommenden Jahren in allen Mitgliedsländern eingeführt werden wird, beschreibt sieben Angststörungen, und zwar in folgender Reihenfolge:
- Generalisierte Angststörung,
- Panikstörung,
- Agoraphobie,
- Spezifische Phobie,
- Soziale Angststörung,
- Trennungsangststörung des Kindes und Erwachsenenalters,
- Selektiver Mutismus (das ist ein Verstummen in nicht vertrauten sozialen Situationen).
Die Unterscheidung in Phobien und Sonstige Angststörungen wurde aufgegeben. Die fünf Angststörungen des ICD-10 werden durch zwei weitere ergänzt, die bisher in der Gruppe der psychischen Störungen des Kindes- und Jugendalters erfasst wurden – einer Kategorie, die im ICD-11 gestrichen wurde.
Krankheitsängste werden im ICD-10 als „Hypochondrische Störung“ (Code F45.2) zur Gruppe der Somatoformen Störungen gezählt, nach deren Auflösung im neuen ICD-11 den Zwangsstörungen zugeordnet.
Die genauen diagnostischen Kriterien der sieben Angststörungen waren im Frühjahr 2019 noch nicht bekannt.
Taschenbuch Angststörungen
Morschitzky, H. & Sator, S. (2018). Die zehn Gesichter der Angst. Ein Handbuch zur Selbsthilfe. 8. Auflage. dtv-Taschenbuch. Lizenzausgabe des Patmos-Buches. 237 Seiten.
Dieses Buch beschreibt die verschiedenen Erscheinungsformen, Ursachen und Folgen von krankhaften Ängsten (10 verschiedene Angststörungen) und bietet neben Selbstbeurteilungsfragebögen einen Selbsthilfe-Ratgeber in Form von 7 Schritten zum besseren Umgang damit. Das ursprüngliche Patmos-Buch ist nach 6 Auflagen nicht mehr erhältlich.